Zeitzeugeninterview mit der Holocaustüberlebenden Ruth Melcer

GeschichteEine „schöne” Veranstaltung zu einem traurigen Anlass.

Anlässlich des Jahrestags der Reichspogromnacht (9.11.1938) lud die Friedrich-Ebert-Stiftung zu einem Zeitzeugeninterview mit der Holocaustüberlebenden Ruth Melcer ein.

Es wurde per Live-Stream in den Hörsaal des JCRGs übertragen. Dort warteten die Klassen 9B und 10D am 10.11.22 zu Beginn der 3. Stunde gespannt auf die Ausführungen der 87-Jährigen – so wie, von der Moderatorin Ellen Diehl geschätzt, 3000 Schüler und Schülerinnen im gesamten Bundesgebiet.

Die resolute, rüstige Ruth Melcer verblüffte zunächst durch ihren sehr nüchternen und direkten Ton.   „Darüber rede ich nicht, Gegenstände sind mir nicht wichtig”, antwortete sie auf die Frage, was das Wertvollste gewesen sei, das sie verloren habe.
Dann wurde es vertraulicher und Melcer berichtete über die Menschen, die sie verloren hatte. Am schlimmsten: der Tod ihres kleinen Bruders. Er sei zu jung gewesen, um ihn als arbeitsfähig auszugeben. Dieser Trick sicherte zunächst ihr Überleben, da ihre Mutter die damals 7-Jährige als 12-Jährige ausgab.
Sie berichtete von der Unterstützung mutiger Menschen: einer Bäuerin, die sie sechs Wochen vor ihren Deportion bewahrte, indem sie sie auf dem Land unterkommen ließ, ehe sie aufflog. Von einem Hinweis im Ghetto, sich wieder von der Liste der Ausreisewilligen nach Palästina zu löschen, da diese in Wirklichkeit ins Gas von Treblinka führte. Von einer Kapo (eine Mitgefangene, die als Aufseherin eingesetzt wurde), die sie schützte und mit etwas Extraproviant versorgte.

Sie berichtete über Entmenschlichung, Isolation, Appelle und Angst, dem roten Himmel und dem Geruch in der Nähe der Krematorien, Kohlsuppe, Mengele, Vernichtung durch Arbeit und ihre Befreiung während eines Todesmarsches bei -27 Grad.

Sie erzählte von ihrer Rückkehr nach Deutschland, in ein Zuhause, das keines mehr war, und ihren Erfahrungen mit Lehrern, die im Geiste noch Nazis waren, gegen die sie sich wehren musste.

Der zunehmende Antisemitismus heute macht Ruth Melcer traurig. Sie ist enttäuscht und fragt sich, ob wir so dumm sind und nichts gelernt hätten. Angst habe sie keine.
Sie schwieg über ihre Erlebnisse bis vor ca. 10 Jahren. Damals war sie in Auschwitz und konnte nicht begreifen, wie das jemand überlebt hat und dass sie überhaupt dort war.

Die Frage, warum gerade sie überlebt habe und Millionen andere nicht, warum sie so viel “Glück” gehabt habe, beschäftigt sie noch immer. „Schützt die Demokratie, schützt euer Leben. Ihr müsst darum kämpfen!”, mahnte sie am Schluss ihrer Ausführungen mit Tränen in den Augen.

Die anschließende Besprechung im Hörsaal zeigte, dass die Schülerinnen und Schüler trotz der räumlichen Distanz zur Referentin, dem Thema ganz nahekamen. Ihre Betroffenheit und Fassungslosigkeit lässt hoffen, dass wir doch nicht so dumm sind und lernen können.

Stefan Heppner

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